Während sich ein Großteil der medialen Aufmerksamkeit auf den Türkei-Deal der Kanzlerin konzentriert, schwellen andernorts schon die nächsten Wellen illegaler Einwanderer heran. Das zerrüttete Libyen wird dabei in Zukunft eine große Rolle spielen. Doch auch über den Kaukasus ist, wenn die Balkanroute geschlossen ist, mit weiterer Einwanderung zu rechnen. Eine Analyse von Pierre Aronnax.
Die bisherigen Bemühungen von Angela Merkel um die vermeintliche Lösung der derzeitigen Asylkrise, die sich im wesentlichen darauf beschränken, dass die Türkei einen Teil der illegal nach Europa eingereisten Einwanderer gegen hohe Geldzahlungen zurücknimmt und gelobt, ihre Grenzen besser zu kontrollieren, um den Strom auf die Balkanroute zu begrenzen, werden momentan von der deutschen Regierung als der einzig gangbare und sinnvolle Weg beschrieben, der außer Kontrolle geratenen Situation in Europa Herr zu werden. Doch daran sind starke Zweifel anzumelden.
500.000 Wirtschaftsflüchtlinge warten im chaotischen Libyen auf ihre Chance
Federica Mogherini, Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitk, warnte erst kürzlich in einem Brief an verschiedene EU-Minister, dass die sich zuspitzende Lage im nordafrikanischen Libyen bald dazu führen wird, dass sich rund 500.000 Einwanderer von dort aus nach Europa aufmachen werden. STRATFOR, ein einflussreicher US-amerikanischer Thinktank aus dem Sicherheitsbereich, wies ebenso darauf hin, dass sich speziell wirtschaftlich motivierte Einwanderer aus Nigeria, Gambia, Guinea, Senegal, Somalia und Eritrea auf den Weg in das Land begeben, um von dort aus über Italien in die EU zu gelangen.
Auch Martin Kobler, Leiter der UN-Unterstützungsmission in Libyen, äußerte sich bedenklich über die Situation dort. Die Lage im Land bewege sich von „schlecht zu schlechter“ gerade auch angesichts der sich immer weiter ausbreitenden und festsetzenden Strukturen des Islamischen Staates (IS). Dieser hatte vor einigen Wochen die Hafenstadt Sabratha unter seine Kontrolle gebracht, von wo aus illegale Einwanderer bevorzugt in Richtung Europa aufbrechen.
Wer nicht nach Europa kommt, schließt sich dem IS an
Einem Bericht von Tom Wescott für das Onlinemagazin MiddleEastEye zufolge ist der IS in Libyen mittlerweile neben seinen Ankündigungen, gezielt eigene Kämpfer für Terrorangriffe in Europa auf Schleuserbooten unterzubringen, dazu übergegangen, illegale Einwanderer aus südlicheren afrikanischen Ländern zu entführen und als Soldaten für sich einzusetzen. Er beruft sich dabei auf Berichte von nigerianischen Einwanderern, die ursprünglich beabsichtigt hatten, in die EU zu gelangen. Somit wird nicht bloß die Zahl der zu erwartenden Einwanderer, die über Libyen nach Norden aufbrechen zur Bedrohung, sondern auch die Zusammensetzung derjenigen, die dort in die Boote steigen, birgt ein immenses Risiko.
Gleichzeitig ist so schnell auch kein Ende des Chaos in Libyen in Sicht: Die fragile innenpolitische Lage des nordafrikanischen Staates, die u.a. darauf zurückzuführen ist, dass es dort keine funktionale Regierung gibt, kann zwar mittels westlicher Diplomatie stabilisiert werden, doch Teile des Landes sind fest in der Hand des IS, während der Osten von al-Qaida dominiert wird. Während die letzten Wochen über eine militärische Option für Libyen ins Spiel gebracht wurde, dementierte allerdings die britische Regierung derartige Pläne diese Woche. Und auch al-Sisi, der ägyptische Präsident warnte davor, dass eine militärische Intervention in seinem Nachbarland zu riskant wäre. Unterdessen weitete der IS seine Angriffe von Libyen aus auf Grenzgebiete Tunesiens aus.
Selbst bei Schließung der Balkanroute kommen weitere vier Millionen Einwanderer
Unabhängig von der Lage in den Maghrebstaaten aber ist für Europa der Zustrom von illegalen Einwandern mit der von Merkel angestrebten Lösung über die Türkei alles andere als beendet. Die Welt berichtete unlängst von einer Analyse des deutschen Thinktanks SAT, der verschiedene Szenarien in dieser Hinsicht für möglich hält. Selbst wenn die Türkei ihren Teil der Vereinbarung mit Merkel einhält, wäre demnach mit ungefähr zwei Millionen Einwanderern zu rechnen, die dann über den Kaukasus nach Deutschland kämen. Insgesamt schätzt SAT die Zahl der zu erwartenden Migranten auf ungefähr eins bis fünf Millionen. Bleibt es bei der konfliktreichen Lage in Nordafrika, rechnet die Denkfabrik mit knapp vier Millionen, was allerdings die Schließung der Balkanroute voraussetzt. Bliebe diese offen, würde die Zahl auf über sechs Millionen steigen.
Die deutsche Regierung und ihre europäischen Verbündeten werden also, wenn sie tatsächlich daran interessiert sind, den massenhaften Ansturm illegaler Einwanderer in die EU zu unterbinden über ernsthafte Maßnahmen der Grenzsicherung nachdenken müssen. Die Haltung der Kanzlerin, die unlängst von CDU-Vize Armin Laschet mit den Worten „Es darf keine Kursänderung geben“ noch einmal bekräftigt wurde, wird in naher Zukunft einer Änderung unterzogen werden müssen, wenn Deutschland und Europa nicht im Chaos versinken sollen. Deutschland kann die Probleme der Welt nicht lösen, aber es kann sich selbst vor diesen Problemen schützen. Diese Absicht muss zur Priorität deutscher Politik werden. Sorgt die Kanzlerin nicht dafür, wird man sich, vorsichtig ausgedrückt, auf ein ereignisreiches Jahr einstellen müssen.
Quelle: Die nächste Welle aus Libyen bringt uns halb Afrika | Einwanderungskritik
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